Geschichte des Kirchenvorstands
Kirchvorstände im Wandel der Zeit
Kirchenvorstände leiten zusammen mit den Pfarrern und Pfarrerinnen die Gemeinden und haben dabei vor allem Verantwortung für deren gesellschaftliche Wirksamkeit, für das gemeindliche Leben und die Gottesdienste. Doch wie kam es zu ihrer Entstehung, welche Rolle spielten die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in ihrer Geschichte und welche theologischen Entscheidungen bestimmen die Arbeit der Kirchenvorstände in den evangelisch-lutherischen Gemeinden Sachsens?
Bereits im 16.Jh. hatte die Reformation im Gefolge Martin Luthers die theologischen Grundlagen für die Übertragung von Leitungsaufgaben an „Laien“ gelegt. In der Praxis kam es indes nicht dazu, abgesehen von der Übertragung einzelner Aufgaben wie der Verwaltung des „gemeinen Kastens“. Dies hatte auch damit zu tun, dass die Wittenberger Reformatoren den Schutz der Landesherren für die reformatorische Bewegung einschließlich des damit verbundenen Einflusses auf das kirchliche Leben akzeptierten und begrüßten. Die Reformation im Gefolge Martin Luthers hat also trotz Abschaffung des mittelalterlichen Priester- und Bischofsamtes und trotz der Lehre vom Allgemeinen Priestertum aller Gläubigen und damit der grundsätzlichen Gleichstellung aller Christinnen und Christen vor Gott, keine Gemeindeleitung durch von den Gemeinden bestellte „Laien“ hervorgebracht. Der jeweilige Landesherr war Träger der „Kirchengewalt“ und entschied schließlich über das, was in den Gemeinden zu geschehen hatte. Die Pfarrer als berufene Amtsträger regelten, was vor Ort zu regeln war. Kirchenvorstände gehörten nicht zu den Früchten der Wittenberger Reformation.
Zwingend war das nicht. Die evangelisch-reformierten Gemeinden z.B. in den Niederlanden und in Frankreich kannten von Beginn an ein Ältestenamt. Die Ältesten („Presbyter“) leiteten zusammen mit den Pastoren die Gemeinde und kümmerten sich vor allem um Vermögensverwaltung und um die Ordnung des kirchlichen Lebens („Kirchenzucht“). Dahinter stand eine Aufmerksamkeit für Hinweise im Neuen Testament, wonach Christus nicht nur ein Amt der Verkündigung eingesetzt habe, sondern mehrere Ämter, je nach Lesart drei oder vier – Pastoren, (Lehrer), Älteste und Diakone. Es war also nicht die Lehre vom Allgemeinen Priestertum aller Gläubigen, die zur Ausbildung einer gemeinschaftlichen Kirchenleitung auf allen Ebenen führte, sondern die Überzeugung, Christus habe für seine Kirche diese Struktur so vorgesehen.
In den lutherischen Kirchen blieben die Mitwirkungsmöglichkeiten der Gemeindeglieder dagegen noch für eine recht lange Zeit sehr begrenzt. Die Kirchenleitungen waren, dem Zeitgeist entsprechend, kaum an der Förderung von Eigenverantwortung in den Gemeinden interessiert. Ähnlich wie im Staat sah man in den Christinnen und Christen eher Untertanen als Schwestern und Brüder. Reformer wie Philipp Jakob Spener (+1675) nannten den Ausschluss der allermeisten Gemeindeglieder von der Leitung und von der Gestaltung des Gemeindelebens eine der Hauptursachen für das „Verderben der ganzen Christenheit“. Es dauerte noch bis weit hinein in ́s 19. Jahrhundert, bis es dann in den lutherischen Kirchen tatsächlich zur Bildung von Kirchenvorständen kam. Ausschlaggebend waren weniger die demokratischen Ideale der bürgerlichen Revolution als vielmehr der Wunsch, die offenkundig zunehmend von der Kirche entfremdeten Menschen in den Dörfern und Städten wieder stärker mit ihrer Gemeinde zu verbinden. Dagegen blieben maßgebliche Theologen und Juristen misstrauisch gegenüber freien Gemeindewahlen und „Laien“ in der Leitung der Kirche.
In den Landeskirchen in Deutschland kam es dennoch nach und nach zu Verfassungsreformen. In Sachsen wurde 1868 eine Kirchenvorstands- und Synodalordnung versabschiedet. Wahlberechtigt waren demnach „selbständige Hausväter, die das 25. Lebensjahr erfüllt hatten“. In den auf diesem Wege erstmalig gebildeten Kirchenvorständen fanden sich vielerorts dann auch vor allem Angehörige des Mittelstandes, Vertreter einflussreicher Familien, Beamte sowie Offiziere.
Mit der Abdankung der Landesfürsten 1918 ging auch deren Kirchenregierung zu Ende. Die nunmehr selbstbestimmt agierenden Kirchen organisierten ihre Verwaltung in Analogie zum demokratisch verfassten Staat mit besonderem Augenmerk auf der Gewaltenteilung. An Kirchenvorstandswahlen konnten alle erwachsenen Gemeindeglieder teilnehmen und ganz wie außerhalb der Kirche konkurrierten Bewegungen und Parteien mit ihren Listen untereinander.
Nach 1933 kam es darauf an, als Kirche gegenüber staatlichen Zumutungen eigenständig zu bleiben. Das führte viele lutherische Gemeinden in eine Krise, denn in vielen Kirchenvorständen dominierten dem „Führerprinzip“ verpflichtete „Deutsche Christen“, die den Nationalsozialismus begrüßten.
Auch um solche oder ähnliche Unterwanderungen auszuschließen, wurde nach 1945 die dem Parlamentarismus entlehnte Listenwahl aufgegeben. An ihre Stelle trat eine Wahlordnung, die auf die aktive Beteiligung der Kandidatinnen und Kandidaten am Leben der Gemeinde achtete und insgesamt eher geistlich ausgerichtet war. In der DDR gehörten die Kirchenvorstandswahlen zu den wenigen Möglichkeiten, eine Wahl nach demokratischen Standards zu erleben und die Kirchvorsteherinnen und Kirchvorsteher schöpften in einem oft feindlichen Umfeld Kraft aus ihrer geistlichen Legitimation und aus der Beauftragung durch die Gemeinden. Kirchenvorstände und Synoden waren Orte der Einübung in Demokratie und wurden dadurch Vorbereiter und Mitgestalter der gesellschaftlichen Veränderungen ab 1989. Heute haben die Kirchen Anteil an dem beträchtlichen bürgerschaftlichen Engagement, das unsere Gesellschaft auszeichnet. Wenn Männer und Frauen ihre Kompetenzen und ihre Glaubensüberzeugungen in die Arbeit der Kirchenvorstände einbringen, nehmen sie Verantwortung wahr für ihre Gemeinden in einer Zeit des Wandels und ebenso für unsere Gesellschaft. Indem sie christliche Positionen in sozialen Fragen vertreten, indem sie sich darum kümmern, dass Flüchtlinge Zuflucht und Zuwendung finden, indem sie Kindergärten und kirchliche Schulen betreiben und Begegnungsräume für Senioren schaffen, sorgen Kirchenvorstände dafür, dass die christliche Gemeinden in der Gesellschaft präsent sind und der Allgemeinheit dienen. Nach wie vor haben es Kirchvorsteherinnen und Kirchvorsteher als Angehörige eines Leitungsgremiums auch mit nicht bis ins Letzte geklärten Fragen zu tun: Was bedeutet es, dass sie auch für das geistliche Leben der Gemeinde zuständig sind? Wie wirkt sich dies auf das Verhältnis zu den Pfarrern und Pfarrerinnen aus? Hier treffen die reformatorische Überzeugung vom Allgemeinen Priestertum und der Geist der Demokratie auf die Überzeugung, dass Christus selbst das kirchliche, zumal das ordinierte Amt gestiftet und Menschen dorthin berufen hat. In der Regel treffen sich auch Hauptberufliche und Ehrenamtliche, wenn Pfarrer und Kirchvorsteherinnen einander begegnen, was die Angelegenheit nicht vereinfacht. Wie ist von daher das Verhältnis von gewählten Kirchvorstehern und Pfarrerinnen genau zu verstehen? Wie gestaltet sich deren Leitungsarbeit vor Ort im Blick auf Gottesdienst, Lehre, Unterweisung, Seelsorge und Mission, wenn es zugleich als Aufgabe der Pfarrerinnen und Pfarrer gilt, die Gemeinde mit Wort und Sakrament zu leiten? Hier zeigt es sich, dass der Parallelisierung zwischen kirchlichen und staatlichen Ordnungen Grenzen gesetzt sind und dass theologische Entscheidungen aus dem 16. Jahrhundert über Amt und Gemeinde kaum berührt von gesellschaftlichen Veränderungen bis heute fortwirken.
Dr. Heiko Franke